Damals™ galt: Twittere nichts, von dem du nicht möchtest, dass es morgen als Überschrift in der BILD-Zeitung steht. Der Hinweis sollte helfen, den eigenen Verstand zu justieren, um nicht in übler Weinlaune über das Ziel hinauszuschießen. Natürlich verhinderte diese Regel nichts, aber sie illustriert doch ganz anschaulich die zärtlichen, naiven Anfänge der Social Media-Kommunikation. Heute gilt das aber nicht mehr.
Seit den Kinderschuhen wurden die Reichweiten weiter, die Tweets länger, die Nutzerzahlen größer, die Inhalte relevanter. Tweets oder Posts sind heute Quellen, die längst keine BILD-Zeitung mehr brauchen, um gesehen zu werden. Accounts oder Profile von PolitikerInnen oder SportlerInnen erreichen so viele Menschen, dass es die Medien nicht mehr als Mittler zwischen Publikum und Prominenz braucht. Medien haben heute nur noch sehr wenig exklusiv, ihnen bleibt nur die Rolle der Zitateverwerter. Sie bekommen nur das, was alle eh schon kennen und können gerade mal noch das getwitterte und instagramte einordnen oder interpretieren. Eigentlich eine wichtige Aufgabe, an der es zwar massiven Bedarf gäbe, aber in der im Stream geformten Nachrichtenrealität immer weniger Interesse. Nichts ist uninteressanter als der vorletzte Tweet in einer Twitter-Timeline. Das wissen alle im Showbiz und im Sport und sie nutzen es perfekt. Sie schalten die bisherigen Mittler einfach aus und sprechen direkt zu Millionen von Fans weltweit. Mesut Özil hat in den letzten Tagen ganz anschaulich präsentiert, wie das heute medienwirksam funktioniert.

In der Politik ist dieser Erkenntnisprozess hingegen in großen Teilen noch nicht so weit fortgeschritten. Die Menschen, die heute an den zentralen Schalthebeln der Macht sitzen, sind 45 Jahre oder älter und wurden politisch sozialisiert als es noch klassische Leitmedien gab. Das bekommen sie anscheinend nur schwer aus dem Kopf. Und so gilt ein kleiner Artikel, links unten auf Seite fünf in der Süddeutschen Zeitung immer noch mehr, als ein Tweet, der hunderttausend Mal gesehen wurde. Einfach nur, weil dieser kleine Artikel im morgendlichen Pressespiegel landet, der Tweet aber nicht. Fast keine Partei und nur sehr, sehr wenige PolitikerInnen nutzen die Kanäle so, wie es das Potenzial eigentlich verspricht. Sie übersehen im nachvollziehbaren Drang, möglichst authentisch und menschennah zu wirken, die eigentlich Chance: Agenda Setting.
Nämlich die Möglichkeit, Themen, die gerade politisch wichtig sind, zur Sichtbarkeit zu verhelfen und Menschen dahinter zu versammeln. Mit Argumenten, Inhalten, verständlichen Hashtags und einem aktiven Community Management. Noch immer werden die sozialen Medien in der Politik zu oft für die Simulation von Dialog genutzt oder als verlängerter Arm der Presseabteilung. Politik verweigert Social Media nach wie vor oft genug die Exklusivität und spült wichtige Infos lieber an altbewährte journalistische Kontakte, in der Hoffnung auf wohlmeinende Berichterstattung.

Ein wesentlicher Beitrag am Erfolg der AfD ist im Übrigen, dass sie das Internet von Anfang an eben nicht nur als Kommunikations- sondern vor allem als Organisiationsraum verstanden hat. Die AfD hatte nicht die Medienkontakte und Netzwerke, auf die sich die anderen Parteien bis heute sträflichst verlassen. Wenn es für diese Partei doch Berichterstattung in den klassischen Medien gab und gibt, dann nutzen sie diese geschickt, um ihre WählerInnen vor allem davon zu überzeugen, wie unfair man ebendort mit ihnen umgeht. Jeder vorzeitige Abgang aus einer Talkshow, jede drapierte Deutschland-Fahne über einem Talkshow-Sessel, jeder Zwischenruf im Bundestag –
all das richtet sich nur an den Resonanzraum Internet. Es dient der Verstärkung und Verfestigung der Anhängerschaft in der eigenen Echokammer. Es sagt nichts anderes als: Sie wollen uns nicht, weil wir aussprechen, was sie sich nicht trauen und hier ist der Beleg. Die AfD nutzt die ehemaligen Leitmedien nur noch, um ihr Agenda Setting im Netz zu verstärken. Man muss der AfD zugestehen, dass sie um die Wirkmächtigkeit des Internets und seine Mobilisierungskraft sehr viel besser Bescheid weiß und beides geschickter nutzt, als jede andere deutsche Partei. Diese sollten anfangen zu realisieren, dass sich die Medienwirklichkeit verändert hat und begreifen, welche erfolgsversprechenden Werkzeuge sie schon längst auch in den Händen halten und diese dann auch endlich effektiv nutzen.

Dazu gehören nicht nur eine professionelle Themen- und Redaktionsplanung und ein aktives Community-Management, sondern auch eine Kampagnenplanung, die im Netz beginnt, dort die eigenen Anhänger sammelt, inhaltlich und argumentativ bewaffnet. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Social Media als das exklusive Info-Medium dieser Zeit zu betrachten und es braucht das klare Bekenntnis zum Kontrollverlust, der kreatives Arbeiten mit Kampagneninhalten und Themen als wichtigen integrativen Beitrag betrachtet und nicht als zu ignorierendes oder zu verhinderndes Element. Es braucht Ressourcen. Women-Power (Männer sind automatisch mitgedacht), Geld und Mediaetats, die diese neue Medienrealität abbilden. Das alles nicht zu tun, ist keine Option mehr. Die Demokratie wird auch mit Content verteidigt.

Autor: Mathias Richel